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Sehr geehrtes Mitglied des Europäischen Parlaments

Als Organisationen, die auf dem Feld der Prävention, der Intervention und der Nachsorge des sexuellen Missbrauchs von Kindern arbeiten, sowie als Vereinigung von Opfern sexuellen Kindesmissbrauchs, würden wir Ihnen gerne unsere Gedanken zum Berichtsentwurf 2010/64 (COM 2010/94), dem Angelilli-Bericht, mitteilen.

Wir sind der festen Überzeugung, dass Kinderschutz auch den Schutz der Zukunft der Kinder umfasst. Wenn wir eine offene und prosperierende Gesellschaft anstreben, stellen wir damit die förderlichste Umgebung her, in der Kinder aufwachsen und leben können.

Der Erfolg einer offenen Gesellschaft hängt maßgeblich von der Erhaltung demokratischer Grundprinzipien ab. Eines dieser Prinzipien ist die Rechtstaatlichkeit. Regierungshandlungen müssen eine gesetzliche Grundlage haben und im Rahmen dieser Gesetze bleiben. Wir sind der Meinung, dass Regulierungen, die auf außergesetzlichen und geheimen Verträgen mit der Privatwirtschaft beruhen, fundamentale Grundrechtsprinzipien verletzen. Solch ein Vorgehen ist antidemokratisch, weil es staatliche Gewalt an Stellen delegiert, die sich außerhalb der öffentlichen Kontrolle, des Transparenzgebots und der Rechtssicherheit bewegen. [1]

Jegliche Handlung des Staates muss geeignet, notwendig und angemessen sein. Bisher hat noch niemand zeigen können, dass Internet-Sperren zur Bekämpfung der Verbreitung von Darstellungen sexuellen Missbrauchs auch nur eine von diesen gesetzlichen Notwendigkeiten erfüllen kann.

Internetsperren sind nicht geeignet, die Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen zu verhindern. Stattdessen kann die Infrastruktur von Verbreitern als Warnsystem genutzt werden (zur Warnung vor laufenden Ermittlungen). Zudem werden die Sperrlisten (die mit Sicherheit in die Öffentlichkeit gelangen werden) von Konsumenten dieses Materials als "Gelbe Seiten" missbraucht werden können.

Unserer Meinung nach sind Internet-Sperren auch nicht verhältnismäßig (im engeren Sinne). Zur Umsetzung dieser Maßnahmen muss die Funktionsweise des Internets grundlegend verändert werden. Dem bestenfalls geringen Effekt dieser Maßnahme (sie soll vorgeblich eine Zufallskonfrontation mit Bildern sexuellen Missbrauchs verhindern) steht eine gravierende Gefahr für demokratische Gesellschaften entgegen.

Wir halten Internetsperren auch nicht für notwendig. Banken können Webseiten, die ihre Kunden zu betrügen versuchen, weltweit innerhalb von 4–8 Stunden entfernen. Wir können einfach nicht verstehen, warum dies bei Bildern sexuellen Missbrauchs von Kindern bis zu 30 Tagen dauern muss. Es scheint ein Problem bei der Prioritätensetzung oder bei der Fokussierung auf das Wesentliche im Bezug auf die Verfolgung von Missbrauchsdarstellungen zu geben.

Obwohl es einen klaren weltweiten Konsens der Ächtung von Bildern sexuellen Missbrauchs gibt (142 Länder haben das "Optional Protocol to the Convention on the Rights of the Child on the Sale of Children, Child Prostitution and Child Pornography" unterschrieben, und Interpol (IKPO) hat 188 Mitgliedstaaten, die bei der Bekämpfung sexuellen Missbrauchs zusammenarbeiten) scheint auf diesem Gebiet ein Problem bei der internationalen Kooperation zu existieren.

An diesen Problemen sollten wir arbeiten, anstatt die Folgen hinter einem Vorhang zu verstecken, hinter dem die Bilder weiterhin für jeden entschlossenen Täter zur Weiterverbreitung zugänglich sind.

Internetsperren werden schon jetzt als Entschuldigung für Nichthandeln herangezogen. Lars Underbjerg vom Danish National High Tech Crime Centre hat dazu in einer Stellungnahme vor dem Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages gesagt: "Den USA [...] 126 Domains zu melden, damit sie vom Netz genommen werden, hätte wenig Sinn, denn dies hat in diesen Ländern eine sehr geringe oder gar keine Priorität."

Aus unserer Sicht stellen sich Internetsperren als eine Entschuldigung für Nichthandeln dar. Zudem wirken sie sich nachteilig auf andere Bemühungen aus, sexuellen Missbrauch und die Verbreitung der Darstellung desselben, weil die Betonung auf Netzsperren die falschen Prioritäten setzt und den Antrieb für echtes Handeln (zum Beispiel internationale Koperation beim Löschen der Inhalte) verringert.

Gerade weil wir sexuellen Missbrauch von Kindern aus der Opferperspektive betrachten, wollen wir eines klar machen: Wir werden nicht zulassen, dass es eine Entschuldigung für Nichthandeln gibt.- nicht für die Polizei - und auch für die Politik.

Mit freundlichen Grüßen

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Christian Bahls, chairman
MOGiS eV - A Voice for Victims
founded in 2009 as "victims of sexual abuse against Internet blocking"


Jakub Śpiewak, president
Fundacja Kidprotect.pl
protecting children on- and offline, also helping victims of sexual abuse


Latifa Bennari, president
Association L'Ange Bleu
child protection, help for victims and therapies for pedosexuals to prevent abuse



[1] Bezüglich der Länder, in denen Netzsperren durch Vereinbarungen zwischen Regierungen und Providern geregelt werden: Wir glauben, dass "Selbstregulierung" hier auch der falsche Begriff ist. Es reguliert nicht der Kunde seine Beziehung zum Provider oder mit dem Web-Anbieter, auf dessen Seite er zugreifen will, sondern die Regierungen und Provider treffen eine Vereinbarung, mit der die Beziehung zwischen Kunden und Web-Anbietern von außen reguliert wird.