Gastbeitrag: Die Uhr zurück drehen

Es gibt Zeiten, da wünschten wir uns, wir könnten die Uhr zurück drehen. War unsere Welt nicht in Ordnung, bevor dieses Urteil vom Kölner Landgericht fiel?

Wir konnten alle noch so tun, als wäre es das Selbstverständlichste der Welt, dass Jungen in bestimmten Religionsgemeinschaften nun mal beschnitten werden. Was geht es uns an? Sollen die das mal nur machen, die Mehrheit von uns Deutschen ist davon doch sowieso nicht betroffen. Jäh wurden wir durch dieses Urteil vor wenigen Monaten in unserer Unbekümmertheit erschüttert. Und je mehr wir die entstandene Debatte verfolgen, umso mehr möchten wir am liebsten wieder wegsehen. Wir werden mit eigener Unwissenheit konfrontiert, Vorwürfen, die ans Eingemachte gehen und einem politisch äußerst fragwürdigen Vorgehen.

Die erste Reaktion ist ein großer Aufschrei. Ausgerechnet in Deutschland soll jüdische, nebenbei auch muslimische Religionsausübung in Frage gestellt werden? Antisemitismus wird uns unterstellt, die aufkommende Debatte erinnere an die Judenverfolgung im Dritten Reich. Verschreckt wollen wir uns zurückziehen. Offenbar ereilte dies auch die Mehrheit unserer Politiker, als sie in einer beispiellosen Schnellaktion im deutschen Bundestag einen Gesetzesentwurf befürworteten, der die Beschneidung rechtlich verankern soll. Doch es ist genau diese Eile, die ahnen lässt, irgendetwas stimmt hier nicht.

Unsere Geschichte holt uns wieder ein, das Trauma scheint noch lange nicht überwunden, weder auf jüdischer noch auf deutscher Seite. Wir wollen auf keinen Fall auch nur irgendwie in Verdacht geraten, Juden am Ende vertreiben zu wollen. Schnell ein Gesetz und alles ist wieder gut. Doch was, wenn wir uns diesem Vorwurf stellen und mitten hinein gehen?

Wir schauen genauer hin und können feststellen, dass schon lange vor unserer Zeit die Praxis der Beschneidung diskutiert und in Frage gestellt wurde. Dies nicht nur in muslimischen Kreisen, auch von Juden selbst wurde die religiöse Grundlage hinterfragt, geschichtlich weit vor dem Holocaust in Deutschland und weit über Deutschland hinaus. Ein erstes Aufatmen, der Antisemitismusvorwurf kann ja dann wohl doch nicht greifen.

Es melden sich immer mehr Juden zu Wort, die ein anderes Bild zeigen. Ein Jude muss gar nicht beschnitten sein, um als Jude anerkannt zu sein. Und gerade erst hat der Jude Eran Sadeh unsere Bundeskanzlerin gebeten, ein Zeichen gegen die Beschneidung zu setzen. Wir lernen, es gibt nicht die Juden, es gibt die extrem orthodoxen, deren Protest hier am größten ist und es gibt die durchaus liberaleren, welche offenbar ihren Reformkurs nicht umsetzen können und sogar um unsere Hilfe bitten. Und auch wenn die ganze Debatte inzwischen fast als eine rein jüdische Debatte erscheint, in muslimischen Kreisen regt sich ebenfalls immer mehr Widerstand gegen das Ritual.

Doch schon lauert der nächste Vorwurf. Die Gegner der Beschneidung würden ausschließlich aus nichtreligiösen Kreisen stammen, die nun im Namen der Menschenrechte religiöse Regeln in Frage stellen. Ein Oberhaupt der katholischen Kirche, Erzbischof Werner Thissen hat sich kürzlich zu Wort gemeldet und sich für die Beschneidung ausgesprochen.

Ausgerechnet unsere Kirche. Haben wir nicht gerade erst einen unfassbaren Missbrauchsskandal hinter uns? Damals fing es auch irgendwann mit nur einem Missbrauchsopfer an, das man noch hätte totschweigen können. Doch es wurden immer mehr, bis das Ausmaß der Katastrophe nicht mehr zu vertuschen war. Wie viele Jahre schien hier an der Oberfläche alles in Ordnung zu sein und darunter fanden entsetzliche Szenen statt? Wäre es nicht gut, sich vielleicht ein wenig zurückhaltender zu äußern, wenn es um ein Thema geht, welches auf andere Weise fatal das Selbstbestimmungsrecht und das Recht auf körperliche Unversehrtheit berührt?

Eines ist klar, Menschenrechte wurden und werden auch von religiösen Menschen missachtet. Es sollte für uns alle wirklich keine Rolle spielen, ob sich jemand aus religiösen oder rein humanitären Gründen für Menschenrechte engagiert.

Grundsätzlich muss gefragt werden, inwieweit jahrtausendealte religiöse Bräuche in unserer aufgeklärten Gesellschaft noch Bestand haben dürfen. Mittlerweile gibt es weltweit eine ganze Reihe von allgemein gültigen Menschenrechtsgrundlagen. Jede Menschenrechtsverletzung, auch aus religiöser Motivation heraus, ist damit einer anderen Instanz unterworfen. Es wird immer deutlicher, dass wir der Thematik keineswegs mit einer reinen Religionsauseinandersetzung gerecht werden können.

Wir müssen diese Debatte auf der Grundlage unseres Grundgesetzes führen. Gerade in Deutschland haben wir ein Grundgesetz, auf das wir eigentlich stolz sein können. Darin ist das Recht auf Religionsfreiheit verankert und das ist gut so. Niemand möchte diese in Frage stellen. Doch wir finden in unserem Grundgesetz auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit.

Es ist noch nicht so lange her, dass das Unrecht der Genitalverstümmelung an Mädchen international anerkannt wurde. Ist es denn nicht mehr als nachvollziehbar, dass irgendwann auch mal die Frage gestellt wird, auf welcher Rechtsgrundlage Beschneidungen an Jungen vollzogen werden? Wir können mit Recht auch nach dem Gleichheitsgrundsatz fragen, wenn wir im Gegenzug nicht gleichzeitig wieder Beschneidungen an Mädchen legalisieren wollen.

Ebenso müssen wir feststellen, dass bisherige Beschneidungen, insbesondere von Nichtärzten wie den Mohelims ausgeführt, gleich gegen mehrere Gesetzesgrundlagen verstoßen haben. Es wurde unter unser aller Augen in einer Grauzone agiert, mehr als beschämend für uns. Und mehr als folgerichtig, dass sich unsere Ärzte vorerst weigern, Amputationen von gesundem Gewebe ohne medizinischer Indikation durchzuführen.

Endgültig mit unserer Unwissenheit konfrontiert werden wir, wenn wir auf einmal sehen, dass die Beschneidung bei Jungen doch mehr ist als ein harmloses religiöses Ritual. Wir hören von frühkindlicher Traumatisierung und schweren körperlichen, insbesondere sexuellen Beeinträchtigungen in deren späterem Leben. Weltweit gibt es genügend Todesfälle nach Beschneidungen, jedes Medikament würde daraufhin sofort vom Markt genommen werden. Reicht dies nicht, um aus reiner Menschenpflicht zu handeln?

Es geht dabei nicht um Erwachsene, die selbst entscheiden können, was sie für richtig halten. Es geht um minderjährige Kinder, die uns Erwachsenen gänzlich ausgeliefert sind. Liegt hier nicht eine doppelt große Verantwortung? Und auf einmal wissen wir, was in dieser ganzen Debatte so unerträglich ist.

Denn offenbar werden von vielen diejenigen übersehen, um die es eigentlich geht. Viele betroffene Männern hatten jetzt den Mut, öffentlich über die Folgen ihrer Beschneidung zu sprechen und ziehen sich damit sogar Bedrohungen und Zorn aus den eigenen Reihen zu. Viele wagen es daher aus gutem Grund nur, sich ohne Namensnennung zu äußern, viele vermutlich gar nicht. Ihnen allen sollte unser größter Respekt und tiefstes Mitgefühl gelten. Sie alle haben es verdient, dass wir sie in den Mittelpunkt der Diskussion stellen. Sie konnten sich als Baby oder Kleinkind nicht äußern, sie tun es jetzt und werden wieder mundtot gemacht. Von selbstgerechten religiösen Überzeugungen, Antisemitismuswehklagen und Politikern, die allzu vorschnell eine Befürwortung der Beschneidung aussprechen, bevor es überhaupt eine Gesetzesgrundlage gibt. Leider nun auch noch unser Bundespräsident.

Eines können wir nicht. Wir können nicht mehr so tun, als wüssten wir nichts. Wir können auch nicht sagen, uns Deutsche geht das alles nichts an. Es geht um eine Gesetzesänderung unseres Grundgesetzes. Und wir werden mit dem unguten Gefühl konfrontiert, dass es hier um weitaus mehr geht. Viele weitere Fragen werden folgen. Aber eines wissen wir inzwischen, hier war schon lange vor dem Kölner Urteil etwas nicht in Ordnung, wir konnten und wollten es nur nicht sehen. Auch wenn es schmerzt, sich dies einzugestehen, es ist allemal besser, als alles wieder zuzudecken und so zu tun, als wäre alles in Ordnung.

(Ein Leserbrief von Monika)

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